Mittwoch, 20. April 2011

Die Frau mit der Häkelnadel

... und der blaue Fleck.

An geradezu jedem Morgen an dem ich um 6 Uhr Früh das Haus verlasse um den Frühdienst in der Arbeit anzutreten, begegne ich einer Frau, die in der selben U-Bahn-Station wie ich einsteigt, an der selben Haltestelle wie ich in eine andere U-Bahn umsteigt wie ich – und dann weiterfährt.

Es ist eine durchschnittlich und unweiblich aussehende, hagere Frau mit kurzem grauem Haar und dem Teint einer Extremstarkraucherin.
Und die meisten Male führt sie in einer Tasche eine Häkelnadel der Stärke nullkommanullnullnull und ein feines weißes Häkelkonstrukt mit sich, an dem sie während "unserer gemeinsamen" Fahrt nach vorne gebeugt unbeirrt dahinhäkelt.
Das ist auch der Grund, warum sie mir aufgefallen ist – nicht wegen ihres Aussehens oder unserer zeitgleichen Fahrt.
Oft schon hab ich mir überlegt, Sie fährt wohl sicher in die Arbeit? Wo bzw. was könnte sie arbeiten? Was macht sie mit den weißen Häkeldeckchen? Verkauft sie sie? Verschenkt sie sie? Ist das ihr Broterwerb?
Insgeheim blickte ich irgendwie zu ihr auf. Nicht dass ich nicht häkeln könnte. Oder es nicht schon in Verkehrsmitteln getan hätte (siehe Flugzeug). Aber die Nadelstärke und die Muster die ich, so höflich dezent wie möglich, erspähen konnte, sind mir eine Abteilung zu fitzelig. Auf Grund des Häkelns war sie mir irgendwie sympathisch. Ich fühlte mich irgendwie verbunden. Ich war nun fast schon so weit, ihr einen respektvollen Morgengruß zuzunicken.

Doch heute war es anders. Heute wurde ich schockiert wie ein kleines Kind, das das erste Mal ausgeschimpft wurde. Wie ein kleiner Welpe, der das Stöckchen auf die Schnauze geworfen bekommen hat. Das Urvertrauen in die Häklerin wurde erschüttert. Ich war persönlich tief getroffen und enttäuscht. Der Gedankenblitz sprach, Das hätte ich mir von ihr nicht gedacht.
Was war geschehen?
Als ich zum Umsteigen zur U-Bahn-Tür vorging, schickte sie sich an aufzustehen – und trat mich dabei versehentlich ans Bein. Ich bin nicht wehleidig oder zimperlich, doch das tat wirklich weh. Sie hatte mich mit der harten Schuhsohlenkante am Sockenbündchen getroffen. Ich rief Au!, sie sagte 'Tschuldige. Ich stieg aus und rieb mir das Bein. Darauf prangt mittlerweile ein kleiner blauer Fleck. Ich konnte mich im zweiten Zug nicht in ihre Nähe setzen – ich war welpenhaft schockiert und konsterniert – und zutiefst enttäuscht.
Nicht dass ich nicht schon öfter einmal in der U-Bahn wo eine Ecke reingehauen bekommen hätte. Nicht dass sie es mit Absicht getan hätte. Nicht, dass ich nicht schon Schlimmeres oder Schmerzhafteres erlebt hätte.
Aber mein Urvertrauen wurde erschüttert. Nicht in die Menschheit – dafür existiert schon länger keines mehr. Aber in die Häklerin. Und das muss ich jetzt erst einmal verarbeiten. So eigenartig das jetzt klingt.