Freitag, 29. April 2016

Du bist politisch, oder?

Bin ich das? Und wie komm ich dazu?

Als kleines Kind der Siebziger war ich indirekt mit dem Tages- und Weltgeschehen konfrontiert, ohne mir noch groß einen Reim darauf machen zu können. Kleine Details, die mich damals auf eine seltsame Art faszinierten, mir als wichtig, als "komische Erwachsenensache" auffielen und sich mir erst später erklärten.
Die Plakate in den Polizeiwachstuben mit den Schwarzweißportraits gesuchter (RAF) TerroristInnen.
Die kleinen runden Löcher in den Fassaden unrenovierter Altbauten.
Die fehlenden Extremitäten älterer Männer (als kleines Kind war ich tatsächlich davon überzeugt, dass dies einfach mit Männern geschieht wenn sie alt werden: Denen fehlt dann halt ein Arm oder ein Bein).
Die Buchstaben auf den Autos (Überbleibsel von den Autofreien Tagen 1974; damals wechselte man seine Autos noch nicht wie die Balkonblumen).
Ich verstand das alles noch nicht. Ich war noch zu jung, um Zusammenhänge und Hintergründe erklärt zu bekommen. Es fiel mir nur auf. Und ich speicherte meine Beobachtungen ab.

Dann lernte ich im Kindergartenalter lesen. Ich war wissbegierig, bzw. neugierig, bzw. ein anstrengendes Kind. Ich wollte nicht ausgeschlossen sein von all dem, was Die Erwachsenen so redeten und lasen und wussten.
Ich lernte lesen, indem ich meiner Mutter auf die Nerven ging. Ich lernte mit Der Presse lesen. Warum ich das so genau weiß? Weil ich ein verwünschtes Gedächtnis habe (das allerdings leider Zahlen ausschließt). Mama, was ist das für ein Buchstabe? - Ein Peh. Das war das große blaue P von "Presse". Meine Mutter kann sich nicht mehr daran erinnern. Ich schon. Mama was steht da. Mama was heißt das. Mama wer ist das. Mama was macht der. Es wird erzählt, eines meiner ersten Worte wäre gewesen "wajum".

"Politisierten" meine Eltern zu Hause? Selten, und mäßig. Manchmal kam des Vaters Studentenzeit zur Sprache. Die Te-Uh. Die Öhah. Ich wusste, dass mein Vater bei einem Zefau war. Und "Die Schlagenden" kopfschüttelnd "Trottel" nannte. Und die ÖVP wählte. Ich merkte, dass meine Mutter nicht wählte wie er. Musste also SPÖ sein, denn viel mehr Anderes stand nicht zur Auswahl.
Mein Vater erzählte mir, Der Androsch und der Kreisky nehmen uns das Geld weg. Also fürchtete ich, in der dunklen Nacht würden Männer kommen und meine Knopfsammlung klauen. Aber sie kamen nicht. Also zweifelte ich an den Bedenken meines Vaters.
Irgendwann kam mein Vater mit Pickerln daher. Schön rund und gelb, mit einer grinsenden Sonne drauf. Die schenkte er mir. Ich durfte sie auf meinen Kasten kleben. "Atomkraft Nein Danke" stand drauf. Die Sonne gefiel mir. Das Wort "Zwentendorf" klang grauslich. Meinem Vater gefiel die mit den langen Haaren von den Schmetterlingen, und Joan Baez. Seit ich auf der Welt war, lief im Radio Ö3. Meine Mutter schaute im Fernsehen "Ohne Maulkorb". Auf dem Plattenspieler musste sie mir endlos Carmina Burana aufdrehen. Manchmal bat ich um Donmeklien, mit der schönen, düsteren Plattenhülle.

Als ich noch klein war, fragte ich die Großeltern mütterlicherseits nicht nach der Vergangenheit. Symptomatisch für ihre und meiner Eltern Generationen war, diese Zeit nicht anzusprechen. Nur manchmal zischte meiner Großmutter etwas wie "die Soundso, die oide Nazi" raus. Über meinen interessierten Blick wurde das Thema gewechselt. Stellte ich viele Fragen, meinte mein Großvater verschmitzt, Neugierige Nasen sterben bald. Ich erklärte umgehend, Aber dafür wissen sie viel. Er quittierte es mit einem wohlwollend lächelnden Nicken.
Mein Urgroßvater war Vizebürgermeister der Heimatstadt meiner Großeltern. "Sozi der allerersten Stunde". "Der Großvater" wurde gelegentlich erwähnt, wenn die Erwachsenen beim Omaopabesuch zusammensaßen. Ich horchte auf. Zum Geburtstag war Die Partei gekommen und hatte Blumen überreicht. Rote Nelken. Im Radio lief "Autofahrer Unterwegs". Sie hören nun die Glocken von Mariazell.
Die steinalte Urgroßtante väterlicherseits, die wir zu besuchen anfingen, erwähnte klagend immer wieder "die Russen, die da beim Fenster eingstiegen sind". Viel mehr Verwandte gab es von dieser Seite nicht mehr.

Später durfte ich mir den Fernseher selber aufdrehen. Ich war schon groß. Ich war schon in der Volksschule.
In den Ferien, oder wenn ich krank war. Ich lernte Russisch mit Lisa Schüller. Wir hatten zwei Kanäle in schwarzweiß. Ich fühlte mit Buster Keaton. Mir war nicht zum Lachen wenn ich ihm zuschaute. Ich hatte Tränen in den Augen, auch wenn Herberthappyprikopa meinte, das wäre jetzt aber lustig gewesen.
Und dann war da diese Sendung, sie war etwas dunkel, verwirrend und kompliziert. Die Affäre Dreyfus. Ich habe angestrengt versucht, ihr zu folgen und zu verstehen, worum es da ging. Es war keine Dokumentation, es wurde nichts erklärt. Ich tat mir ein bisschen schwer. Aber ich gab nicht auf. Ich verstand, was meine Eltern damit meinten: Dafür bist du noch zu klein, aber bitte, schaus halt an.
Und dann war da etwas Neues. Und es war so spannend. Es hieß "Österreich II". Und Hugo Portisch redete. Und zeigte. Und erklärte. Und ich saugte alles in mich auf. Wenn meine beste Freundin mich besuchen durfte, schauten wir gemeinsam. Ich schaute auch das "Panoptikum". Ein kleiner Blick in die große weite Welt, ohne das Internet, das es damals noch lange nicht gab.
Und ich setzte mich auch hin und verfolgte konzentriert das "Hohe Haus". Ich machte mir sogar Notizen. Und wunderte mich ein bisschen über das manchmal so gar nicht "erwachsene" Verhalten dieser Erwachsenen. Einer sagte etwas von "vor der eigenen Türe kehren".

Als ich ins Gymnasium kam, verlor ich meine beste Freundin aus den Augen. Im und für das Gymnasium gab es viel zu tun. Im Wohnzimmer, also beim Fernseher, hielt ich mich auch immer weniger auf. Ich versuchte, meinem Vater aus dem Weg zu gehen.
An der Schule gab es allerdings einen historischen Schwerpunkt. Plakatwände wurden aufgestellt und gestaltet. Referate wurden ausgearbeitet. Es war überall zu hören und zu lesen. Es war 1985. Es war ein besonderes Gedenkjahr.
War ich "politisch"? Nicht wissentlich. Der Sinowatz. Der Waldheim.
Ich sammelte in den Wiener Straßen Pflückgedichte. Ich fand sie interessant. Ich fand sie richtig. Ich stimmte ihnen zu. Ich fand sie äußerst aufschlussreich.

Zum Ende der Achtziger, der Vater war ausgezogen, wurde ich hellhöriger. Besetzte Häuser in Wien wurden geräumt. Gegen die Reichen beim Opernball wurde demonstriert. Ich kannte einige dieser Leute. Nicht die in den Ballroben. Ich fing wieder an, Tageszeitungen zu lesen. Ich verfolgte die Nachrichten. Jedes Stück Information zog seine Kreise. Jedes Puzzlestück fragte nach dem nächsten. Gorbatschow. Perestrojka. Glasnost. Solidarnosc. Honecker. Ich wurde überrascht von der Liveübertragung der Verhandlung und prompten Exekution der Ceausescus. Dem Mauerfall. Auf dem Volksstimmefest traf ich meinen Kunstprofessor. In Berlin, fuhr ich nach Oranienburg.

In meinem Kopf schwirrte die Kunst. Die Literatur. Das Studium. Die persönliche Orientierung. Wahlen hier, Wahlen da, Erwachsenwerden. Eine Reisepasshülle auf der in acht verschiedenen Sprachen steht, Ich habe diese Regierung nicht gewählt. Ich verwende sie noch immer, und bedaure, dass die Aufschrift mittlerweile ziemlich abgerieben und schwer lesbar ist.

Nicht lange bevor das Kind auf der Welt war, fuhr ich das erste Mal seit meiner Schulzeit wieder nach Mauthausen. Bewusst. Es heißt, ungeborene Kinder würden fühlen, was die Mutter fühlt. Werden diese Kinder denken, was ihre Mütter denken? Ich werde meinem Kind die Welt und die Menschen erklären. Ich werde seine Fragen beantworten. Ich werde es nicht traditionstaufen lassen. Ich werde es mit Menschen bekannt machen. Ich werde es mitnehmen. Zu Kundgebungen der Tibetergemeinschaft. Zu Feiern in der Friedenspagode. Zu den Bahnhöfen. Zu Kundgebungen für Menschenrechte, gegen Rechtsruck und Unmenschlichkeit. Ich werde ihm die Menschen und die Welt erklären.

Wahrscheinlich bin ich politisch. Vielleicht bestätigt das der Umstand, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie man es nicht sein kann.

Dienstag, 26. April 2016

Es sind Menschen, die da hetzen.

Angesichts der erschütternden Wahlergebnisse werden nun Stimmen halblaut, die davor warnen, Wähler*innen der rechtspopulistischen Partei "ins rechte Ecke zu stellen" oder sie zu beschimpfen bzw. über deren statistisch aufgezeigtes niedriges Bildungsniveau zu spotten.

So weit so gut. Schimpfen und spotten ist nicht einmal Kindergartenniveau, denn wäre es das, bräuchten Pädagog*innen nur mehr das zu sein, was man nicht selten ohnehin bereits von ihnen annimmt: Aufsichtspersonen die eh nur spielen müssen.

Dass man sich aber zerfranst, den Mund fusslig redet und sich den Kopf über das Wie und Warum zerbricht, eben jenen Wähler*innen Aufklärungsdienste leisten zu wollen, sie verstehen zu müssen, soll nicht in einem christlich-abendländisch-wertevollem Dieanderebackehinhalten münden. Denn leider ist es zu oft genau so.

Wer die neun Pflichtschuljahre mehr desinteressiert als anwesend absitzt und danach keinerlei Interesse zeigt, sich in die Gesellschaft einzubringen und weder für die Allgemeinheit noch sich selbst Sorge zu tragen gewillt ist und dieses Bild erfolgreich seinen Nachkommen vorlebt; wessen Fachwissen sich allein auf Möglichkeiten der Unterstützungs- und Gratisleistungseinbringung beschränkt; in wessen Lebensanschauung hineininterpretiert wird, allein aus der Existenzangst, das Wenige auch noch verlieren zu können, zu agieren - das sind zu oft genau jene Personen, die jemandes intensiven Vollzeitjob mit über vierzig Wochenstunden und mittelmäßigem Gehalt mit einem "Dafür steh ich doch gar nicht erst auf" kommentieren; jene Personen, die jemand, der sich neben einem solchen Vollzeitberuf ehrenamtlich in der Freizeit engagiert, abfällig als "Gutmensch" titulieren; jene Menschen, die bar jeglicher Dankbarkeit (geschweige denn der Frage nach der Finanzierung solcher Programme) Familien(kur)urlaube, Wohnungseinrichtungen, Finanzspritzen, exklusive Kassenleistungen, Schulmaterialausstattungen, Zahlungserlässe, Vergünstigungen und Schenkungen annehmen, und als selbstverständlich annehmen.

Man könnte versucht sein, die Arme zu verschränken, sich zurückzulehnen und eben diese Personen in ihr eigenes Verderben hineinwählen zu lassen. Würden sie nämlich das Interesse und die Energie aufwenden sich genauer zu informieren, wem und was sie da eigentlich zustimmen, müsste ihnen dräuen, dass genau ihr Ast auf dem sie sitzen, vielleicht etwas später als früher, auf der logischen Absägeliste steht.
Warum lehnt man sich nun also nicht zurück, vor allem wenn man sich ausrechnen kann, dass die eigene Existenz weniger bedroht ist als die ihre?
Weil es manchen Leuten gegeben ist, Empathie zu empfinden.
Empathie und Sorge denen gegenüber, deren Existenz tatsächlich bedroht ist. Empathie und Sorge auch denen gegenüber, die ihr Energieventil nur darin finden können, verbal oder körperlich ausfällig zu werden.

Was antwortet man also einer solchen Person? Antwortet man ihr überhaupt? Blendet man sie besser aus? Versucht man sie zu bekehren und zu belehren? Verspürt man reines Mitleid? Resigniert man?

Mir persönlich liegt ein Satz auf der Zungenspitze.
"Ich kämpf da deinen Klassenkampf für dich, Oida!"

Damit werden viele nichts anfangen können.
Aber ich werde nicht damit aufhören.