Dienstag, 24. Januar 2012

Wie man ein Kind impft

Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung.
– Erich Fromm
(momentanes, und passendes, Zitat am unteren Blattrand)

Ich war nie eine "schlechte" Schülerin. Mit der genetischen Mitgabe von ausreichend elterlicher Intelligenz und der pädagogischen Förderung meiner Mutter hatte ich in diesem Bereich nie eine Entschuldigung.
Was mich an einer "großen Karriere" mit Doppeldoktor und fünfstelligem Gehalt gehindert haben könnte sind andere Faktoren – und diese sind nicht unbedingt angeborene Laschheit und die uns in der Volksschule pro forma unterstellte "Faulheit".
Mein "Problem" kommt aus einer anderen Ecke. Mein "Problem" ist das Unbehagen und die innere Ablehnung wenn es um Prüfungssituationen geht. Nicht dass ich schlecht dabei abschnitte. Sondern die eingeimpfte Nervosität und Unsicherheit betreffend die Situation an sich.

Nun habe ich eingangs betont, ich wäre nie eine "schlechte" Schülerin gewesen. Im Gymnasium war ich nicht eine von denen die tage- und nächtelang ihre Nase in Schulunterlagen steckte und vor Prüfungen und Schularbeiten büffelte und lernte bis der Schädel knirschte wie eine einbrechende Eisenbrücke. Ich las mir den Stoff einmal durch, und das war es. Mehr war ich nicht bereit zu investieren – zu mehr war ich blockiert. Auf diese Weise ging ich durch die Schuljahre und die Matura. Ohne Sitzenbleiben und ohne gröbere Katastrophen.
Natürlich hatte ich dieselbe Nervosität vor Schularbeiten wie die Anderen (das ist doch auch irgendwie ein Ritual), natürlich stand ich ein paar Mal zwischen Noten und musste mich mündlich vor der Klasse abfragen lassen. Aber rückblickend spazierte ich da relativ lässig durch, und dabei war und ist diese Schule keine, an der man wenig Lernstoff zu bewältigen hat und dieser unsäglich locker beurteilt wird.

Worauf will ich hier eigentlich hinaus? Auf die pädagogischen Fehler anno dazumal. Auf die (so erklärt mir mein erwachsenes Ich) offenbare Angst meines Versagens meines Vaters, zum Beispiel. Dem meine Leistungen nie genug sein konnten und würden. Der mich in Volksschulzeiten während Wochenenden und Ferien täglich lernen ließ, stundenlang, nicht weil ich nichts vom Stoff begriffen hatte, sondern um die Einser nicht zu verlieren. Alles unter der Bestnote galt für ihn als sonderschulwürdig. Das wurde mir auch permanent eingebläut. Ich würde "in die Hauptschule in den B-Zug" geschickt (dieses Modell existiert heute nicht mehr), und "Klofrau werden". Das Bild das mir vorgezeichnet wurde war zur Abschreckung gedacht. Doch wir wissen, was die Kraft der Vorstellung bewirkt. Stell dir vor du kannst es, und du schaffst es. Stell dir vor du kannst es nicht, und du versagst. Mir wurde ein genaues, negatives, Bild meiner (nahen) Zukunft vorgezeichnet. Ein unrealistisches.
Anstatt, wie man weiß, mit Lob für Geschafftes, kleinen geduldigen Schritten bei momentanem Nichtkapieren, und positiven Beispielen als Anreiz zu arbeiten, und besondere Talente hervorzuheben. Vielleicht hatte ich deshalb nie Idole, Vorbilder, Wunschberufe. Ich hatte nicht gelernt, mir etwas abzuschauen, etwas nachzueifern, etwas anzustreben. Ich hatte gelernt mich vor dem zu fürchten was praktisch nicht eintreten könnte und würde. Aber man kann es sich ja einreden.
Höchstwahrscheinlich hing es damit zusammen dass ich als Kleinkind mit Meningitis ins Spital musste und die Ärzte meinen Eltern unsensiblerweise kurz und knapp erklärten, Wenn sie es überlebt, bleibt sie wahrscheinlich blöd. Davor hatte mein Vater wahrscheinlich Panik. Aber statt sich an meiner Gesundheit und meinem Können zu erfreuen (und mir dies zu zeigen!!), trieb er mich mit lauter Stimme und höllenhündischem Gesichtsausdruck an den Rand meiner Nervenstärke.

Ein paar Anekdoten aus der Praxis.
• Volksschulzeit. Zweite oder dritte Klasse vielleicht. Sommerferien. Mein Zeugnis voll Einser. Doch mein Vater spürte eine vermeintliche Schwäche in "Sachunterricht" auf (man muss ja immer ein Haar in der Fünfhaubensuppe finden). Also musste ich, als ich ihn auf seinen Terminen (selbständiger Architekt) begleitete, den großen Ringordner mitschleppen und während seiner Besprechungen "lernen".
• Ich hatte eine beste (Schul)Freundin die nicht weit von mir wohnte. Und deren Eltern einen Schrebergarten ebenfalls nicht weit von unseren Wohnungen hatten. Dort verbrachten wir im Sommer viel Zeit gemeinsam; verglichen mit Heute sehr frei und weitläufig. Aber unter Bedingungen. Bedingungen meines Vaters. Stand ich früh auf und "lernte" bis zu Mittag (also so um die 5 Stunden), durfte ich am Nachmittag für ebenso viele Stunden zur Freundin in den Garten. Aber wenn nicht, dann nicht. Und genügten meine Leistungen zu seiner mittäglichen Prüfung in seinen Augen nicht, musste ich die Freundin telefonisch darüber benachrichtigen, dass ich nicht kommen dürfe, weil ich auch am Nachmittag zu lernen habe.
• Silvester. Der von ihm ausgedachte Deal war: Die Anzahl der Stunden die ich tagsüber "lernte", wurde mir eins zu eins auf die Stunden nach 17 Uhr angerechnet, die ich für Silvester aufbleiben durfte. Wollte ich also den Jahreswechsel miterleben, musste ich etwas über sieben Stunden Lernzeit ansammeln. Erarbeite dir deine Feier, sozusagen. Wie kann man da nicht darauf einsteigen können.
• Schule war wichtiger als alles sonst. Eines Morgens lag ich im Bett, war kränklich, Erkältung oder Bauchschmerzen oder Derartiges. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon zur Arbeit gefahren. Er kam in mein Zimmer, riss mir die Decke weg und schrie, Du hast nicht krank zu sein! Und ich ging los zur Schule. Der perfekt vorbereitete Nährboden für spätere Ausbeuterarbeitgeber.
• Eines Wintertags, ich war schon im Gymnasium, wurde im Radio durchgesagt, auf Grund der tiefen Minusgrade seien die Schulen geschlossen und die Schüler sollen an diesem Tag zu Hause bleiben. Für meinen Vater kam das nicht in Frage. Er schickte mich los. Kein weiter Schulweg zu Fuß, aber kalt genug, um die Beine nicht mehr zu spüren. In der Schule angekommen, empfing mich die Direktorin, und fragte mich aufbrausend was ich hier mache – es sei kältefrei. Ich erklärte ihr, mein Vater hätte mich geschickt. Sie rief ihn an (nicht um ihm die Leviten zu lesen sondern um sicherzugehen dass jemand zu Hause war), schickte mich heim. Später wunderte ich mich, dass sich die Haut an meinen Ohren schälte. Ich hatte sie mir in der Kälte wohl abgefroren.

Ich behaupte und betone immer, meine Schwäche läge in der Mathematik. Aber irgendwann als Erwachsene begann ich daran zu zweifeln, ob es wirklich nur an meiner Untalentiertheit läge, oder vielleicht doch eher daran, dass mein Vater mathematikbegabt und -begeistert war. Er ließ mich zum Beispiel dutzendseitenweise Divisionen rechnen. Mit laut tönender Kritik und Korrektur. Schon da merkte ich, dass ich, selbst wenn ich richtige Lösungen wusste, nicht die Stimme hatte sie zu sagen, oder den Stolz, auf ihrer Richtigkeit zu beharren. Oft wusste ich am Ende gar nichts mehr.
Hauptschule, B-Zug, Klofrau.
Übrigens bin ich gar nicht so schlecht im Rechnen. Und in Logik gar nicht so unbegabt. Man hat es mir bloß ausgeredet.

In der Klostervolksschule waren die pädagogischen Methoden auch nicht fortgeschrittener. Auch hier gab es nur das Hervorheben von Fehlern (und seien es vermeintliche, unterstellte) anstelle des Lobens und Förderns von Erfolgen und Talenten. "Schlechte" Arbeiten wurden hochgehoben, zur Abschreckung gezeigt und das Heft dem Kind um den Kopf geknallt. Die Frage war nie, Was habe ich gut gemacht, sondern, Was habe ich schlecht gemacht. Im katholischen System ist, so betrachtet, auch nichts Anderes möglich. Schuld und Sünde ist der Aufhänger. Wunder und Gutes tun immer nur ganz Andere. Die wir Würmer aus Staub nie erreichen werden.
Die Schule war keine Eliteschmiede. Eher geprägt vom Kriegsdarwinismus: Wer schwach ist, geht ein. Man fördert und kooperiert nicht, man kämpft demütig, um seinen eigenen Kopf an der Oberfläche zu halten. Und je tiefer die Anderen hinuntergetreten werden, desto leichter geht es einem. Und erleichternde Schadenfreude als das gesellschaftliche Nebenprodukt für die, die es geschafft haben.

Wie kann man hernach als Erwachsener Lob und Anerkennung nicht als Sarkasmus anzweifeln. Wie kann man seine Werke stolz präsentieren (Stolz! Was für eine Sünde!). Wie kann man selbstbewusst auftreten und "sich gut verkaufen". Wie kann man nicht immer 150 % geben wollen (oder der Ansicht sein, weniger sei nicht genügend). Wie kann man aufhören, sich ständig zu wünschen und darum zu fürchten, Andere permanent zufriedenzustellen. Wie kann man davon lassen, immer alle Arbeit an sich zu reißen, um vielleicht irgendwann Anerkennung dafür zu erhalten. Wie kann man den Berg, den man bewältigt hat, als Erfolg sehen, wenn man sich auf das was nicht so optimal war, und das was noch bevorsteht, konzentriert. Wie kann man aufhören sich zu schämen, wenn man in den Mittelpunkt gestellt und gefeiert wird. Wie kann man sich selbst sagen, Es ist gut, es ist genug.

Die Dame die ich heute Abend kennenlernen werde, darf sich auf eine Menge Geschichten gefasst machen.
Ich hoffe, sie lehnt mich nicht als Patientin ab.
Und da ist sie schon wieder, die Versagensangst.
Es sind tausende Dinge, die Andere nicht weiter gestört und beeinflusst haben. Warum dann also mich.
Aber vielleicht werde ich ihr ja gerade deswegen interessant.

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