Freitag, 8. Juni 2012

Hast du kein Pferd, so nimm den Esel.

Bzw. eine Zeile darunter in der Liste von WikiQuote:
Hast Du nichts Gutes zu sagen, sage lieber gar nichts.

Ich geh mir selbst mit meiner ständigen Nörglerei ganz schön auf die Nerven. Man möge es nicht für wahrscheinlich halten.
Gemäß der mir in der Klostervolksschule eingeimpften "täglichen Gewissenserforschung", die sich penetrant in mein Un(ter)bewusstsein gebrannt hat, ist mir selbst klar, wie oft ich anklage, beklage, meckere, nörgle, zuerst einmal immer die Widers und Abers erkenne und herausfinde. Ich hab vielleicht meine naive, unschuldige Sicht der Dinge verloren. Ich bin vielleicht bloß nur so realistisch wie ich immer als Erklärung angebe. Ich bin ein sehr kritischer, empiristischer Mensch.
Aber ich frag mich immer, Mach ich den Anderen dadurch nicht dauernd etwas madig? Geh ich ihnen als ewige Kritisiererin auf den Geist? Werde ich als alte, verbissene, verbitterte Oma enden?
Auch beim Schreiben hier ist es nicht anders: Über wie viele erfreuliche Dinge berichte ich, und wie oft bin ich am Aufzeigen von Dingen die nicht optimal oder gar empörend sind? Warum ist mein Schwerpunkt immer nur auf das Anklagen gerichtet?

Ich hatte fast vor, mich über Hundebesitzer in der Großstadt auszulassen (Fakten! Beobachtungen! Erkenntnisse! Anklagen!). Was in einer Aufregung über den sich heutzutage offenbar durchsetzenden Kindererziehungsstil übergegangen wäre.

Ich hätte eine lange "Kaffee-dazuhol-weil-so-lang"-Geschichte niederzuschreiben, wie es einem im österreichischen Gesundheitswesen ergehen kann, wenn sich die operierte Schilddrüse zu langweilen scheint und man weniger als herumgereicht wird.

Ich könnte mein Schockiertsein darüber darlegen, wie aus Spaß, Freude und Spannung schnöde Geschäftemacherei gemacht wurde, anhand des Beispiels eines derzeit aktuellen Stickersammelalbums bzw. dessen Befüllung.

Aber ich will nicht mehr. Ich will mich über die alte Dame, die sich (ich gehe jetzt garantiert nicht im Detail mehr darauf ein!) am Straßenbahnausstieg grundlos unmöglich benommen hat, nicht länger ärgern als ich brauchte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen.

Ich will das nicht mehr. Respektive, ich will das nicht mehr in einem solchen Ausmaß. Ich will all so etwas nicht mehr derart intensiv und lange mit mir umherschleppen. Vergessen ist natürlich nicht, aber "Look back in anger" soll's in meinem Kopftheater auch nicht als Daueraufführung (mehr) spielen.
Bin ich in ein neues, erweitertes Level des "Erwachsenwerdens" eingetreten? So dass ich eines fernen Tages zwar Ungerechtigkeiten aufzeigen, aber auch wirklich los(ge)lassen (werden) kann? Bzw., losgelassen werden kann?

So bin ich losgegangen und habe versucht, die schönen Seiten zu sehen (wie klingt das banal). Erst mal einer Wohnung.
Immer meckere ich, wie unordentlich es ist. Wie viel sauberer es sein könnte. (Ja, ich arbeite Vollzeit und bin nicht Sklave meiner Wohnung. Ja, es ist woanders noch übler. Ja, es ist im Grunde eh alles OK.) Ich hab die Kamera geschnappt und meine Lieblingsnischen fotografiert. Und währenddessen innerlich kritisiert, dass man dabei das ungeputzte Fenster sieht. Oder den Staub auf dem Fensterbrett. Oder eine Unaufgeräumtheit. Aber ich hab mir selbst gesagt (insert here: typical cartoon-angel&devil-sitting-on-shoulders-scene), Ist jetzt wurscht. So ist es. Darum geht's jetzt nicht. Und beim Runterladen der Bilder hab ich gemerkt, dass manche davon leicht verschwommen sind. Und nein, das ist jetzt wurscht. So ist es. Darum geht's jetzt nicht. Anstatt die Bilder zu löschen und zu wiederholen, wie es sonst meine Art gewesen wäre.
Es muss nicht perfekt sein. Das ist die Übung daran. Konzentrieren auf das was gut und schön ist. Nicht auf das was zu kritisieren wäre. Anderen wird es nämlich vielleicht wurscht sein jetzt. Weil es so ist. Und weil es jetzt darum geht:

Das Amselnest auf der alten Küchenwaage, neben der selbstgezogenen Vanillepflanze.

Einfach das Gesamtbild, das sich einem Vorübergehenden draußen bieten möge.

Die eklektische Klimbimsammlung rund um meinen Schreibtisch.

Die Fundstücke im Bad die so "ich" sind.

Die Dinge im Vordergrund sind nicht die Medikamente.

Die Erbstücke meiner Großeltern, die ich schon als Kind geliebt hab.

Der unwillkürliche "Trockenteich" im Garten.

Dass sich so viel zusammensammelt was zusammenzugehören scheint.

Unser Aardman-Insider.

Dass auch eine Toilette Platz für Persönliches hat, dessen sich lohnt, eine Weile umhergeschleppt zu werden.






Dass es einfach ist, wie es geworden ist.

Und dass wir offensichtlich sind wer wir sind.




Sonntag, 22. April 2012

Wo sind all die Hüte hin...

Ich sehe mir gerne historische Dokumentationen an. Vorzugsweise die jüngere österreichische Geschichte betreffend, also die der letzten 150 Jahre.
Und was meinem outfitspionierenden Auge auffiel: Mann (und nicht nur Mann) trug anno dazumal Hut auf der Gasse. Kommen Politiker heutzutage aus dem Parlament spaziert, sind sie barhäuptig.
Wann fing es an, dass unbedeckte Köpfe nicht gegen den Anstand und Dresscode verstießen? Oder: Dass Hüte Alte Hüte wurden?

1910er  ...  1930er  ...  1950er   ...   1960er   ...   1970er
(Bildquellen sollten sich aus den URLs ergeben)

Als Mann das Haar lang zu tragen pflegte? Oder hat's schon wieder was mit dem Autofahren zu tun? (Strecken die nicht mehr zu Fuß zurückgelegt werden bedürfen keiner Wetterschutzbehütung? Hutgebilde stört beim Manövrieren eines Automobils? Versteife ich mich etwa ein bisschen auf die Böse-böse-Autounkultur-zerstört-uns-das-wahre-Leben-Philosophie?)
Und dann kamen die Baseballkappen?
Wie viele Männer (schränken wir jetzt mal auf die Altersgruppe 30/40+ ein) tragen noch Hut? In der U-Bahn? Auf der Straße?

Gerne anschauen werde ich mir demnächst einen Film, der mir eigentlich zuerst aufgrund seiner Kostüme aufgefallen ist: Hugo Cabret.
Die Strickpullover! Die Tweedjacken/mäntel! Die Strümpfe und Stiefel! Und wieder die Hüte auf den Straßen.
Und da offenbart das leicht unverstehende Antlitz S.s dann ein bisschen, was "Ryan Gosling" wirklich dächte, wenn ich sag,
"Ich mag den Film sehen – den mit dem Buben in dem großartigen Pullover!" – "Und wie heißt der Film?" – "Hab ich jetzt vergessen, aber die Kostüme sind toll!" Aaaah ja.

Sonntag, 18. März 2012

Lightning McQueen, perverses Metakonsummaskottchen.

Ich krieg alles – auch das was ich (noch) gar nicht will.

Ja, das stimmt. Ich bekomme alles was ich will. Und wenn ich es nicht bekomme, muss ich nur ein bisschen (oder mehr) meckern und jammern, und dann bekomme ich es doch. Denn ich bin ein verwöhntes Gör, und ich bin mir dessen mehr denn je bewusst.
Alle erwarten ("heutzutage") doch, dass ihnen alles in den Schoß gelegt und nachgetragen wird – gratis am Besten natürlich. Alle wollen alles haben, und das bitte geschenkt. Man ist überzeugt, man habe Anspruch auf (hauptsächlich meine ich materielle) Unterstützung von allerlei Seiten. Weil wir allesamt verwöhnte Gören sind.
Und ich weiß auch wie es dazu gekommen ist.

Auf einem für Kinder erdachten Fernsehsender lange Minuten Fernsehwerbung aufmerksam gesehen: Was alles erdacht und produziert wird. Die unmöglichsten, unnötigsten, scheußlichsten Dinge, die man eigentlich gar nicht haben und gebrauchen wollen kann. Tonnenweise Gegenstände in tausenden Variationen aus Material die sich ewig nicht zersetzen werden, aber in kürzester Zeit zu Bruch gehen. Wegwerfartikel die nicht verrotten. Ein perverses Paradox.
Und das Allerperverseste: Der Metahype: Unmengen von Dingen rund um für Kinder erdachte "lebendige" Autos. Der Hype um den Hype. Lightning McQueen als das Symbol für verzweifelt anmutendes Ringen um das Schnellerkurbeln der Konsumindustriespirale. Unnötiges Merchandising rund um unnötige Produkte.

Wollen wir zurückgehen und sehen, wie und wann es dazu gekommen ist, wann der Produktionswahnsinn die "Zielgruppe Kind" entdeckt hat.
Wann hat es angefangen, dass die Industrie den genialen Einfall hatte, der Stillstand wäre wieder in Aufschwung umzuwandeln, indem man Dinge herstellt, die es bis dahin nicht gab (weil sie höchstwahrscheinlich gar nicht gebraucht wurden), für Leute die in ihrer Gewissensliste den Punkt "meinen Kindern alles gegeben" abhaken können wollen.
Hat man jetzt auch weniger Kinder, weil man diesen wenigen mehr aufhäufen zu wollen müssen denkt? Hat man vor hundert Jahren in "Krisenzeiten" mehrere Kinder "durchbringen" können, in vergleichsweise finanziell "schlechter" ausgestatteten Zeiten?

Wann fing es an, dass nicht nur Gegenstände, sondern auch vorgefertigte Nahrungsmittel eigens für Kinder erdacht und produziert wurden?
Gab es in den 1970ern eigens designte Kindermöbel? (Ich hatte keine?) Waren diese, wie auch die Kinderkleidung, nicht einfach nur kleiner hergestellte Variationen der Produkte für Erwachsene? War Essen nicht einfach nur Essen, das jeder in der Gesellschaft zu sich nimmt? Wie geisteskrank ist die Nahrungsmittelindustrie, wenn sie in ihrer Marketingverzweiflung der Meinung ist, Verluste ließen sich nur durch die Verbreitung von eigenen "Kinderäpfeln" und "Kinderwurst" abwenden?

Ich denke, mit den fetten Achtzigern fing es an. Alles war schon da, alles gab es schon. Aber wir wollten immer alles haben, und immer mehr anhäufen. Die erwachsen werdende Generation war nicht mehr die (Nach)Kriegsgeneration. Die erwachsen werdende Generation war, unbedroht, gelangweilt und/weil überfüttert; stürzte sich ins große Bigger/Better/Faster/More. Spannend: Zu diesem Zeitpunkt sprossen die Werbeagenturen wie verrückt. Weil man die Leute ja gehirnwaschen muss. Sonst wäre die Wahnsinnsidee nicht aufgegangen. Und jene, die, ohne Großartiges und wirklich Wichtiges geleistet zu haben, berühmt und verwöhnt sein wollen, werden als Testimonials eingebaut. Und die Schraube dreht sich noch ein bisschen schneller.

Und mich beschleicht von Zeit zu Zeit der Gedanke, ob meine Konsumverweigerung vielleicht die Wirtschaft ankratzen könnte? Ich denke, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Das ist ja mitunter auch mein Wunsch: dass dieser immer mehr und immer schneller und enger hochschraubende Produktionswirbel irgendwie und irgendwann implodiert. Irgendwann und irgendwo muss das Limit erreicht sein, wo wirklich gar nichts mehr geht und alles zusammenkracht. Soll es doch! Wir brauchen es doch gar nicht! 
Können wir es schaffen? Yo, wir schaffen das!!!


Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
– Bertolt Brecht 

Sonntag, 11. März 2012

Die Werbung Lügen strafen...

... tut das Kind hier mit einer genetischen Leidenschaft.

Dass man uns nicht einreden kann was wir zu haben und zu kaufen wollen, steht bereits eisern fest.
Vorgeführte, abgebildete und vorgesagte Zaubereien werden streng angezweifelt und wissenschaftlich hinterfragt bzw. widerlegt (Stichwort: Zauberputzmittel).
Konkurrenzüberbietungen strömen der Logik nach ihre angeberische Verlogenheit aus.

Nun kamen mir neulich die jetzt auch in unseren Breiten vertriebenen fast schwarzen, runden Kekslein mit weißer Füllschicht ins Haus.
Das Kind wollte die Probe aufs Exempel, und es damit dem Mädchen aus der Fernsehwerbung gleichmachen.

Und das ging so.

Ich ZEIG dir jetzt mal, wie man einen OOOreo Keks isst.
Zuerst drehst du ihn aaaaaaau––
>und krack!<
– Der Keks ist in Stücke zerbrochen.
Großes Staunen allerseits.
- Warum geht das bei mir nicht, wenn das vierjährige Mädchen können?
- Vielleicht sind da dutzende Kekse in Stücke gegangen, die die Filmcrew verputzen musste.
Oder aber, und das ist noch viel wahrscheinlicher: Der Keks war präpariert. Getürkt. Vorbereitet.
Also nicht das, was einem dann tatsächlich verkauft wird. Extra was Anderes für den Film hergerichtet.

Der Mann des Hauses meinte, Ach er hat schon viele solche gegessen, das ginge doch. Schau:
>krack!<
Von wegen.
Also wird in der Werbung nicht gezeigt, was man tatsächlich bekommt.

Hat schon mal jemand Werbefotografien bearbeitet? Von Personen bis zu "Food": alles geschummelt, eh schon wissen. Da kann nicht mal nur "die Farbe auf Grund des Drucks abweichen", wie manchmal ganz klein wo vermerkt zu lesen steht. Vieles von dem "Food" ist mit Absicht ja nicht einmal genießbar. Und meine Ansichten und Überzeugungen haben sich während meiner über 10 Jahre in der Wahnsinnsbranche mehr als bestätigt.

Also Vorsicht: Achten Sie auf die Marke. Denn Werbung wirkt.

Donnerstag, 8. März 2012

Warum eigentlich?, II

Gestern las das Kind eine Schlagzeile in der Arbeiterkammer-Zeitschrift mit:
Dass Frauen bei gleicher Qualifikation und Tätigkeit immer noch weniger als Männer  verdienen.

Aber das ist doch unfair!!!, empörte sich das Kind. Ja, das ist es wohl. Schon seit langer Zeit.
Aber warum ist das so!, fragte er. Ja, das ist die Frage. Warum ist das – noch immer und immer noch – so.
Aber das ist unfair!!!, wiederholte er.

Wenn das einem Kind auf den ersten Blick und beim ersten Gedanken auffällt, warum soll man weiter wegschauen und nicht ernsthaft darüber nachdenken?

Ich schreibe gar nicht viel weiter, sondern verlinke lieber zu einer großartigen Frau:
http://cat-und-kascha-rote-tupfen.blogspot.com/2012/03/brot-und-rosen.html

Mittwoch, 1. Februar 2012

Notiz für mein Altes Ego

Wer nur davon träumt, mich zu schlagen, sollte aufwachen und sich dafür entschuldigen.
– Muhammad Ali 

Nachdem der neu eingebaute Herd gleich bei der ersten Verwendung einen seiner versenkbaren Drehknöpfe nicht mehr ausgespuckt hatte, wurde ich zu MacGyver.

Doch statt mit einem Kaugummi und einer Kugelschreiberfeder holte ich den Knopf mit starkem Klebeband wieder heraus.

Dienstag, 24. Januar 2012

Wie man ein Kind impft

Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung.
– Erich Fromm
(momentanes, und passendes, Zitat am unteren Blattrand)

Ich war nie eine "schlechte" Schülerin. Mit der genetischen Mitgabe von ausreichend elterlicher Intelligenz und der pädagogischen Förderung meiner Mutter hatte ich in diesem Bereich nie eine Entschuldigung.
Was mich an einer "großen Karriere" mit Doppeldoktor und fünfstelligem Gehalt gehindert haben könnte sind andere Faktoren – und diese sind nicht unbedingt angeborene Laschheit und die uns in der Volksschule pro forma unterstellte "Faulheit".
Mein "Problem" kommt aus einer anderen Ecke. Mein "Problem" ist das Unbehagen und die innere Ablehnung wenn es um Prüfungssituationen geht. Nicht dass ich schlecht dabei abschnitte. Sondern die eingeimpfte Nervosität und Unsicherheit betreffend die Situation an sich.

Nun habe ich eingangs betont, ich wäre nie eine "schlechte" Schülerin gewesen. Im Gymnasium war ich nicht eine von denen die tage- und nächtelang ihre Nase in Schulunterlagen steckte und vor Prüfungen und Schularbeiten büffelte und lernte bis der Schädel knirschte wie eine einbrechende Eisenbrücke. Ich las mir den Stoff einmal durch, und das war es. Mehr war ich nicht bereit zu investieren – zu mehr war ich blockiert. Auf diese Weise ging ich durch die Schuljahre und die Matura. Ohne Sitzenbleiben und ohne gröbere Katastrophen.
Natürlich hatte ich dieselbe Nervosität vor Schularbeiten wie die Anderen (das ist doch auch irgendwie ein Ritual), natürlich stand ich ein paar Mal zwischen Noten und musste mich mündlich vor der Klasse abfragen lassen. Aber rückblickend spazierte ich da relativ lässig durch, und dabei war und ist diese Schule keine, an der man wenig Lernstoff zu bewältigen hat und dieser unsäglich locker beurteilt wird.

Worauf will ich hier eigentlich hinaus? Auf die pädagogischen Fehler anno dazumal. Auf die (so erklärt mir mein erwachsenes Ich) offenbare Angst meines Versagens meines Vaters, zum Beispiel. Dem meine Leistungen nie genug sein konnten und würden. Der mich in Volksschulzeiten während Wochenenden und Ferien täglich lernen ließ, stundenlang, nicht weil ich nichts vom Stoff begriffen hatte, sondern um die Einser nicht zu verlieren. Alles unter der Bestnote galt für ihn als sonderschulwürdig. Das wurde mir auch permanent eingebläut. Ich würde "in die Hauptschule in den B-Zug" geschickt (dieses Modell existiert heute nicht mehr), und "Klofrau werden". Das Bild das mir vorgezeichnet wurde war zur Abschreckung gedacht. Doch wir wissen, was die Kraft der Vorstellung bewirkt. Stell dir vor du kannst es, und du schaffst es. Stell dir vor du kannst es nicht, und du versagst. Mir wurde ein genaues, negatives, Bild meiner (nahen) Zukunft vorgezeichnet. Ein unrealistisches.
Anstatt, wie man weiß, mit Lob für Geschafftes, kleinen geduldigen Schritten bei momentanem Nichtkapieren, und positiven Beispielen als Anreiz zu arbeiten, und besondere Talente hervorzuheben. Vielleicht hatte ich deshalb nie Idole, Vorbilder, Wunschberufe. Ich hatte nicht gelernt, mir etwas abzuschauen, etwas nachzueifern, etwas anzustreben. Ich hatte gelernt mich vor dem zu fürchten was praktisch nicht eintreten könnte und würde. Aber man kann es sich ja einreden.
Höchstwahrscheinlich hing es damit zusammen dass ich als Kleinkind mit Meningitis ins Spital musste und die Ärzte meinen Eltern unsensiblerweise kurz und knapp erklärten, Wenn sie es überlebt, bleibt sie wahrscheinlich blöd. Davor hatte mein Vater wahrscheinlich Panik. Aber statt sich an meiner Gesundheit und meinem Können zu erfreuen (und mir dies zu zeigen!!), trieb er mich mit lauter Stimme und höllenhündischem Gesichtsausdruck an den Rand meiner Nervenstärke.

Ein paar Anekdoten aus der Praxis.
• Volksschulzeit. Zweite oder dritte Klasse vielleicht. Sommerferien. Mein Zeugnis voll Einser. Doch mein Vater spürte eine vermeintliche Schwäche in "Sachunterricht" auf (man muss ja immer ein Haar in der Fünfhaubensuppe finden). Also musste ich, als ich ihn auf seinen Terminen (selbständiger Architekt) begleitete, den großen Ringordner mitschleppen und während seiner Besprechungen "lernen".
• Ich hatte eine beste (Schul)Freundin die nicht weit von mir wohnte. Und deren Eltern einen Schrebergarten ebenfalls nicht weit von unseren Wohnungen hatten. Dort verbrachten wir im Sommer viel Zeit gemeinsam; verglichen mit Heute sehr frei und weitläufig. Aber unter Bedingungen. Bedingungen meines Vaters. Stand ich früh auf und "lernte" bis zu Mittag (also so um die 5 Stunden), durfte ich am Nachmittag für ebenso viele Stunden zur Freundin in den Garten. Aber wenn nicht, dann nicht. Und genügten meine Leistungen zu seiner mittäglichen Prüfung in seinen Augen nicht, musste ich die Freundin telefonisch darüber benachrichtigen, dass ich nicht kommen dürfe, weil ich auch am Nachmittag zu lernen habe.
• Silvester. Der von ihm ausgedachte Deal war: Die Anzahl der Stunden die ich tagsüber "lernte", wurde mir eins zu eins auf die Stunden nach 17 Uhr angerechnet, die ich für Silvester aufbleiben durfte. Wollte ich also den Jahreswechsel miterleben, musste ich etwas über sieben Stunden Lernzeit ansammeln. Erarbeite dir deine Feier, sozusagen. Wie kann man da nicht darauf einsteigen können.
• Schule war wichtiger als alles sonst. Eines Morgens lag ich im Bett, war kränklich, Erkältung oder Bauchschmerzen oder Derartiges. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon zur Arbeit gefahren. Er kam in mein Zimmer, riss mir die Decke weg und schrie, Du hast nicht krank zu sein! Und ich ging los zur Schule. Der perfekt vorbereitete Nährboden für spätere Ausbeuterarbeitgeber.
• Eines Wintertags, ich war schon im Gymnasium, wurde im Radio durchgesagt, auf Grund der tiefen Minusgrade seien die Schulen geschlossen und die Schüler sollen an diesem Tag zu Hause bleiben. Für meinen Vater kam das nicht in Frage. Er schickte mich los. Kein weiter Schulweg zu Fuß, aber kalt genug, um die Beine nicht mehr zu spüren. In der Schule angekommen, empfing mich die Direktorin, und fragte mich aufbrausend was ich hier mache – es sei kältefrei. Ich erklärte ihr, mein Vater hätte mich geschickt. Sie rief ihn an (nicht um ihm die Leviten zu lesen sondern um sicherzugehen dass jemand zu Hause war), schickte mich heim. Später wunderte ich mich, dass sich die Haut an meinen Ohren schälte. Ich hatte sie mir in der Kälte wohl abgefroren.

Ich behaupte und betone immer, meine Schwäche läge in der Mathematik. Aber irgendwann als Erwachsene begann ich daran zu zweifeln, ob es wirklich nur an meiner Untalentiertheit läge, oder vielleicht doch eher daran, dass mein Vater mathematikbegabt und -begeistert war. Er ließ mich zum Beispiel dutzendseitenweise Divisionen rechnen. Mit laut tönender Kritik und Korrektur. Schon da merkte ich, dass ich, selbst wenn ich richtige Lösungen wusste, nicht die Stimme hatte sie zu sagen, oder den Stolz, auf ihrer Richtigkeit zu beharren. Oft wusste ich am Ende gar nichts mehr.
Hauptschule, B-Zug, Klofrau.
Übrigens bin ich gar nicht so schlecht im Rechnen. Und in Logik gar nicht so unbegabt. Man hat es mir bloß ausgeredet.

In der Klostervolksschule waren die pädagogischen Methoden auch nicht fortgeschrittener. Auch hier gab es nur das Hervorheben von Fehlern (und seien es vermeintliche, unterstellte) anstelle des Lobens und Förderns von Erfolgen und Talenten. "Schlechte" Arbeiten wurden hochgehoben, zur Abschreckung gezeigt und das Heft dem Kind um den Kopf geknallt. Die Frage war nie, Was habe ich gut gemacht, sondern, Was habe ich schlecht gemacht. Im katholischen System ist, so betrachtet, auch nichts Anderes möglich. Schuld und Sünde ist der Aufhänger. Wunder und Gutes tun immer nur ganz Andere. Die wir Würmer aus Staub nie erreichen werden.
Die Schule war keine Eliteschmiede. Eher geprägt vom Kriegsdarwinismus: Wer schwach ist, geht ein. Man fördert und kooperiert nicht, man kämpft demütig, um seinen eigenen Kopf an der Oberfläche zu halten. Und je tiefer die Anderen hinuntergetreten werden, desto leichter geht es einem. Und erleichternde Schadenfreude als das gesellschaftliche Nebenprodukt für die, die es geschafft haben.

Wie kann man hernach als Erwachsener Lob und Anerkennung nicht als Sarkasmus anzweifeln. Wie kann man seine Werke stolz präsentieren (Stolz! Was für eine Sünde!). Wie kann man selbstbewusst auftreten und "sich gut verkaufen". Wie kann man nicht immer 150 % geben wollen (oder der Ansicht sein, weniger sei nicht genügend). Wie kann man aufhören, sich ständig zu wünschen und darum zu fürchten, Andere permanent zufriedenzustellen. Wie kann man davon lassen, immer alle Arbeit an sich zu reißen, um vielleicht irgendwann Anerkennung dafür zu erhalten. Wie kann man den Berg, den man bewältigt hat, als Erfolg sehen, wenn man sich auf das was nicht so optimal war, und das was noch bevorsteht, konzentriert. Wie kann man aufhören sich zu schämen, wenn man in den Mittelpunkt gestellt und gefeiert wird. Wie kann man sich selbst sagen, Es ist gut, es ist genug.

Die Dame die ich heute Abend kennenlernen werde, darf sich auf eine Menge Geschichten gefasst machen.
Ich hoffe, sie lehnt mich nicht als Patientin ab.
Und da ist sie schon wieder, die Versagensangst.
Es sind tausende Dinge, die Andere nicht weiter gestört und beeinflusst haben. Warum dann also mich.
Aber vielleicht werde ich ihr ja gerade deswegen interessant.